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Rechtliche und normative Grundlagen für die Technische Dokumentation
Dipl.-Red. Jan Dyczka
Irgendwann steht jeder Technische Redakteur zum ersten Mal vor der Frage, welche rechtlichen und normativen Aspekte er in seiner täglichen Arbeit berücksichtigen muss. Bei der naheliegenden fixen Recherche im Internet entsteht schnell Unsicherheit: Gibt es einen Unterschied zwischen europäischen Richtlinien, europäischen Verordnungen, Gesetzen und Normen? Muss ich diese Regelwerke alle berücksichtigen oder beinhalten bestimmte Regelwerke die anderen? Muss ich Normen überhaupt anwenden? Wie finde ich die Regelwerke, die für meine Technische Dokumentation (TD) relevant sind? Dieser Beitrag soll die wichtigsten Einsteiger-Fragen klären. Schwerpunkt ist dabei die europäische Richtlinien- und Normenlandschaft.
Die für die TD relevanten Forderungen finden wir in folgenden Bereichen:
- Produkthaftung
- Produktsicherheit
- Arbeitsorganisation
- Gestaltung/Usability (sowohl von Produkt als auch TD)
- Informationsvermittlung
In den Bereichen Produkthaftung und Produktsicherheit werden die Regelwerke heutzutage größtenteils in der Europäischen Union erlassen, in Form von europäischen Richtlinien oder Verordnungen und europäischen oder internationalen Normen.
Normen zu Arbeitsorganisation, Gestaltung/Usability und Informationsvermittlung haben ihren Ursprung meist ebenfalls auf internationaler oder europäischer Ebene, aber hier finden wir auch noch rein nationale Regelwerke. Im Fall einer Norm wie z.B. der DIN 5008, die sich mit sprachspezifischen typografischen Regeln befasst, wäre eine internationale Norm ganz offensichtlich nicht sinnvoll.
Europäischen Richtlinien
Europäische Richtlinien richten sich nicht unmittelbar an die Bürger oder Unternehmen der Europäischen Union (EU), sondern sind eine Anweisung an die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, die Vorgaben der Richtlinien in der jeweiligen nationalen Gesetzgebung umzusetzen.
Von der europäischen Richtlinie zum nationalen Gesetz
In jeder europäischen Richtlinie ist der Zeitpunkt genannt, an dem sie spätestens als nationales Gesetz in Kraft treten muss. Es ist daher sinnvoll, sich vorausschauend mit neuen oder geänderten Richtlinien zu befassen, die den eigenen Tätigkeitsbereich betreffen. Auf diese Weise kann man sich frühzeitig darauf vorbereiten, welche Vorschriften man ab einem bestimmten Zeitpunkt beachten muss.
Europäische Verordnungen
Europäische Verordnungen haben unmittelbar Gesetzescharakter in allen EU-Mitgliedsstaaten. Es bedarf bei europäischen Verordnungen nicht einer nationalen Umsetzung. Somit sind auch die in den europäischen Verordnungen genannten Anforderungen in allen EU-Mitgliedsstaaten gültig. Teilweise sind die Regelungen in den europäischen Verordnungen aber nicht abschließend, sondern lassen den Mitgliedsstaaten in bestimmten Bereichen die Möglichkeit, Anforderungen noch zu konkretisieren (sog. Öffnungsklauseln). Man muss hier also auch die nationalen Vorschriften beachten.
Wichtige europäische Richtlinien und Verordnungen und ihre Umsetzung in deutsches Recht
Die Europäische Komission stellt auf ihren Webseiten detaillierte Informationen zu den europäischen Produktsicherheitsrichtlinien und -verordnungen zur Verfügung. Eine Übersicht findet man hier. Über das Aufklappmenü „European standards“ im Bereich „Legislation and standards“ (ganz unten auf der Webseite) gelangt man auf ein Dropdown-Menü zu ausgewählten Produktbereichen, die mit den entsprechenden Verordnungen mit unter anderem folgenden Informationen und Verweisen verlinkt sind:
- Metadaten
- Text in vielen EU-Amtssprachen
- Hinweise auf eine anstehende Überarbeitung, manchmal auch der aktuelle Entwurf
- Informative Dokumente zur Anwendung („guidance“ und „guides for application“)
- Listen der harmonisierten Normen in vielen EU-Amtssprachen
- Kontakt bei der EU-Kommission
Die Tabelle listet eine Auswahl von europäischen Produktsicherheitsrichtlinien und -verordnungen und ihre Umsetzung in deutsches Recht auf.
Kurztitel | Nummer | Deutsches Gesetz |
Allgemeine Produktsicherheit | Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) | |
EMV | EMV-Gesetz | |
Medizinprodukte | Medizinproduktegesetz | |
Aktive medizinische Implantate | Medizinproduktegesetz | |
Bauprodukte | Bauproduktegesetz; Bauverordnungen der Länder | |
Funk und Telekom | Funkanlagengesetz | |
Wirkungsgrade von Warmwasserheizkesseln | Energieeinsparverordnung | |
Nichtselbsttätige Waagen | Mess- und Eichverordnung | |
Niederspannungsbetriebsmittel | 1. ProdSV (Verordnung zum ProdSG) | |
Spielzeug | 2. ProdSV | |
Einfache Druckbehälter | 6. ProdSV | |
Gasverbrauchseinrichtungen | 7. ProdSV | |
Persönliche Schutzausrüstung | 8. ProdSV | |
Maschinen | 9. ProdSV | |
Sportboote | 10. ProdSV | |
Geräte in explosionsgefährdeten Bereichen (ATEX) | 11. ProdSV | |
Aufzüge | 12. ProdSV | |
Druckgeräte | 14. ProdSV |
Europäische Verordnungen, europäische Richtlinien und die daraus abgeleiteten nationalen Gesetze treffen Forderungen auf einer vergleichsweise allgemeinen Ebene. Die EU-Kommission beauftragt die europäischen Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI, die Forderungen der europäischen Produktsicherheitsverordnungen und Produktsicherheitsrichtlinien in technischen Normen zu konkretisieren. Darüber hinaus unterstützen Industrieunternehmen das Entwickeln der Normen. Im Amtsblatt der EU werden die Normen später veröffentlicht, mit dem Zusatz „harmonisiert“.
Zusätzlich gibt es Normen, die mit nationalen Gesetzen harmonisiert sind. Für die deutschen Produktsicherheitsgesetze findet man Listen der harmonisierten Normen bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).
New Legislative Framework
Seit 2008 werden die europäischen Richtlinien in einem sogenannten New Legislative Framework (NLF) modernisiert. Alle neuen europäischen Richtlinien und Überarbeitungen der bestehenden europäischen Richtlinien werden nach diesem Ansatz erstellt. Wesentliche Ziele des NLF sind die richtlinienübergreifende Harmonisierung, zum Beispiel einheitliche Terminologie, und die Stärkung der Marktüberwachung und Importkontrolle.
Ja und nein: Ja, es gibt keine grundsätzliche Pflicht, Normen anzuwenden. Nein, denn es gibt gute Gründe Normen anzuwenden.
Die Anwendung von Normen wird dann zur Pflicht, wenn Verträge, Gesetze oder Selbstverpflichtungen („wir arbeiten nach ISO 9001“) die Anwendung vorschreiben.
Selbst wenn dies nicht der Fall ist, tut man dennoch gut daran, Normen anzuwenden. Denn insbesondere im Haftungsfall kann Folgendes entscheidend sein:
- Die Anwendung von Normen indiziert, dass man sorgfältig gearbeitet hat (sogenannte „Indizwirkung“).
- Durch Anwendung harmonisierter Normen wird die sogenannte „Vermutungswirkung“ ausgelöst – demnach steht zu vermuten, dass das Produkt die grundlegenden Sicherheitsanforderungen erfüllt.
Aber Vorsicht: Endgültig entlasten kann man sich durch die Anwendung von Normen nicht. Eine Norm bildet für eine große Spannbreite von Anwendungsfällen die allgemein anerkannten Regeln der Technik zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ab.
Der aktuelle Stand der Technik kann die Norm inzwischen überholt haben. Auch kann die konkrete Lösung anders geartete oder in der Norm nicht genannte Maßnahmen erforderlich machen. Anwenden von Normen bedeutet also nicht, den Normentext sklavisch zu erfüllen, sondern den Normentext zu verstehen und auf seinen eigenen Fall sinnvoll und begründbar anzuwenden.
Schritt 1: Was soll dokumentiert werden?
Im ersten Schritt sollten Sie folgende Fragen beantworten:
- Welche Art Erzeugnis soll dokumentiert werden, um welchen Produkttyp handelt es sich?
- Für welche Zielgruppen soll TD erstellt werden, z.B. berufliche Anwender, Verbraucher oder Instandhaltungspersonal?
- Welche Tätigkeiten sollen oder dürfen diese Zielgruppen ausführen?
- Welche Dokumenttypen sollen erstellt werden (Montageanleitung, Bedienungsanleitung, Instandhaltungshandbuch, …)?
- Gibt es Vereinbarungen oder Verträge mit dem Kunden, in denen anzuwendende Regelwerke aufgeführt sind?
Schritt 2: Regelwerke recherchieren und beziehen
Aus den Antworten auf die Fragen in Schritt 1 ergibt sich, welche der folgenden Regelwerke man nach Anforderungen an den konkreten TD-Auftrag untersuchen muss:
- Auf den Produkttyp bezogene europäische Richtlinien/Verordnungen und dazugehörige harmonisierte Normen
- Nationale Produktsicherheitsgesetze und dazugehörige harmonisierte Normen
- Sonstige europäische Richtlinien/Verordnungen und nationale Gesetze, z.B. zur Produkthaftung
- Weitere, nicht harmonisierte Normen
Als Ausgangspunkte der Recherche können helfen:
- Technische Fachleute wie Entwickler und Produktmanager
- Europäische Richtlinien/Verordnungen: Gemeinsame Website von EU-Kommission, EFTA und europäischen Normungsorganisationen (Aufklappmenü „Products“ im Bereich „Legislation and standards“)
- Deutsche Gesetze im Internet
- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
- Deutsches Institut für Normung e. V.
- Beuth Verlag GmbH
- Normen-Infopoints (Karte und Suchmöglichkeit)
- Normungsorganisationen der übrigen europäischen Staaten (Übersicht: Navigationselement „Members“)
- Internationale Normen
Wenn Sie ermittelt haben, welche Regelwerke prinzipiell in Frage kommen, hilft alles nichts: Sie müssen sie sich beschaffen oder einsehen. Bei einigen der genannten Anlaufstellen geht das direkt. Bei internationalen Normen hat man das Glück, dass ISO in einer Vorschau Inhaltsverzeichnis, Einleitung, Anwendungsbereich und Begriffe zur Verfügung stellt. Dies reicht häufig schon aus, um beurteilen zu können, ob man die Norm kaufen muss. Immer häufiger werden ISO-Normen als EN-Normen übernommen. Wenn man also eine EN-Norm sucht, macht es auch Sinn, nach der entsprechenden ISO-Norm zu suchen.
Tipp: Heutzutage empfiehlt sich der Bezug von Regelwerken in elektronischer Form, z.B. als PDF, weil man diese effizienter durchsuchen kann als ein Papierdokument.
Schritt 3: Irrelevante Regelwerke aussortieren
Bei der Recherche werden Sie Regelwerke finden, deren Anwendungsgebiet sich doch nicht mit dem konkreten TD-Auftrag deckt.
In Normen empfiehlt es sich, zunächst folgende Kapitel auszuwerten. Die genannten Kapiteltitel orientieren sich an deutschen Normen; in anderssprachigen Normen muss man analog verfahren:
- „Anwendungsbereich“ und „Definitionen“: Bereits hier wird häufig die Frage beantwortet, ob die Norm zu Produkt, Zielgruppe(n) und deren Tätigkeiten passt. Schon nach dem Lesen dieser meist überschaubaren Kapitel kann man häufig einige recherchierte Normen beiseitelegen, weil sie beispielsweise für einen elektrischen Spannungsbereich gelten, in dem das zu dokumentierende Erzeugnis nicht arbeitet.
- Kapitel mit Titeln wie „Hinweise zum Gebrauch“, „Benutzerinformation“, „…anleitung“ u.ä. liefern Informationen darüber, was die TD mindestens enthalten muss. Da nicht genormt ist, wie TD in Normen bezeichnet wird, muss man in dieser Hinsicht die Normen kreativ durchsuchen. Unter Umständen enthalten nicht alle recherchierten Normen Anforderungen an die TD.
Schritt 4: Nachrecherchieren
Die in Schritt 3 übrig gebliebenen Normen liefern Hinweise für eine Nachrecherche:
- Das Kapitel „Normative Verweise“ liefert möglicherweise weitere Normen, die man noch nicht gefunden hatte.
- ISO-Normen haben einen sogenannten ICS-Code (International Classification for Standards), mit dem die Normen in Klassen eingeteilt sind. Diejenigen Klassen zu durchsuchen, in denen man bereits relevante Normen gefunden hat, kann weitere Treffer liefern.
Mit den so gefundenen weiteren Normen verfährt man wie in Schritt 3.
Um eine Norm einordnen zu können, ist hilfreich zu wissen, wie sich die Nummer einer Norm zusammensetzt:
- Abkürzung, anhand der sich der Herausgeber erkennen lässt
- Laufende Nummer
- Ggf. Teil (von der laufenden Nummer durch Bindestrich getrennt)
- Ausgabedatum (von laufender Nummer/Teil durch Doppelpunkt getrennt)
Wenn eine Norm mehrere Herausgeber durchlaufen hat, werden die zugehörigen Abkürzungen vorne angehängt und ggf. das Ausgabedatum angepasst.
Beispiel:
- Internationale Norm: ISO 28927-5:2009
- Europäische Fassung dieser Norm: EN ISO 28927-5:2009
- Nationale Fassungen dieser Norm: DIN EN ISO 28927-5:2010-05 (Deutschland), NF EN ISO 28927-5:2010-08-01 (Frankreich), BS EN ISO 28927-5:2009 (Großbritannien), …
Dipl.-Red. Jan Dyczka
Jan Dyczka studierte Technische Redaktion an der FH Hannover. Danach war er drei Jahre in einem mittelständischen Unternehmen tätig. Seit 2002 ist er bei Siemens in Braunschweig. Neben der Erstellung Technischer Dokumentation ist er dort Normenansprechpartner der Dokumentationsabteilung. Seit 2005 ist er korrespondierendes und seit 2008 festes Mitglied im tekom-Beirat Recht und Normen, der diesen Beitrag angeregt hat. Die in der Einleitung beschriebenen Unsicherheiten kennt er aus dem Anfang seiner Berufslaufbahn gut und nahm sie als Anstoß, sich eingehender mit der Welt der Gesetze und Normen zu befassen.